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1. Februar – 26. März 1993 · Vereins- und Westbank · Hannover

Eröffnungsrede zur Ausstellung

„Inscriptionen“ bedeutet zunächst einmal „Einschreibungen“, auch das Einritzen von Schriftzeichen und Symbolen – und tatsächlich erkennt man auf den Bildern von Michael G. Müller zahlreiche Buchstaben, Sätze, ganze Texte neben merkwürdigen Symbolen und Zeichen aller Art. Der Künstler selbst verweist in diesem Zusammenhang auf seinen Beruf: als Grafik-Designer hat er es gelernt, mit Schriftzeichen gestaltend umzugehen und auch seine Bilder sind in diesem Sinne „Layouts“.

Aber noch auffälliger ist für den Betrachter, dass es keine glatten, nur mit Farben bedeckten Flächen sind, sondern Collagen und Assemblagen – Materialbilder also, die aus den verschiedensten Gegenständen zusammengefügt sind: Fundstücke wie Knochen, Muscheln, Holz, rostige Eisenteile oder Elektroteile. Dinge also, die jemand verloren oder weggeworfen hat, finden sich hier innerhalb der vier Seiten eines Bildes zur Komposition zusammen.

Für den Künstler haben diese Funddinge – Krimskrams recht eigentlich – jedoch eine starke inspirative Aussagekraft, sie fordern ihn zur visuellen Gestaltung auf. Der künstlerische, gestalterische Prozess nimmt also seinen Anfang im zufälligen Fund eines Dinges und er endet mit der bewussten Kombination der Fundgegenstände und Malmaterialien – neben Farbpigmenten auch Sand, Leim und Papierreste – zu einer bildhaften Komposition. „Komposition“ bedeutet ja „zusammensetzen, zusammenstellen“ von zuvor disparaten Dingen zu einer Einheit. Der Zufall des Findens und die gestaltenden Kombinatorik sind hier die spannungsvollen Pole, zwischen denen sich der Funke der künstlerischen Inspiration entzündet.

Die inspirierende, phantasieanreizende Kraft, die von zufällig gefundenen Gegenständen des Alltags ausgeht, finden Sie auch bei einem bekannten Künstler des 20. Jahrhunderts, in dessen Tradition die Arbeiten von Michael G. Müller im besten Sinne stehen, bei Kurt Schwitters nämlich. Auch Schwitters war ein besessener Sammler von scheinbar nutzlosem Krimskrams und Abfall, den er zu Materialbildern zusammenfügte und die als dadaistische „Merz-Kunst“ in die Kunstgeschichte eingegangen sind .

Michael G. Müller hat vor kurzem erst von einem aufregenden Fund berichtet, drei merkwürdige Metallscheiben, die er als Radfahrer in der Gosse entdeckt hat: es handelte sich bei näherer Betrachtung um ein Set von Kuchenbackformen, die, vom Autoverkehr plattgefahren, eine interessante Gestaltform erhielten und sich künstlerischen Integration in ein Bild geradezu anboten.

Es ist eine schöne Parallele zum Dadaisten Schwitters, der ebenfalls per Fahrrad das Hannover der 20er Jahre durchforschte, ein eifriger Finder kurioser Nutzlosigkeiten, die er zu Kunstwerken erhob. Mit seinen Materialcollagen wollte Schwitters bewusst die Schranke zwischen der traditionellen Kunstwelt des schönen Scheins und der Banalität des Alltäglichen einreißen. Mit seinen Abfallbildern praktiziert er die Ineinanderblendung von Kunst und Leben, die Aufhebung der Grenze zwischen dem Ästhetischen und dem Alltäglichen. So erhebt er auch den Abfall, die zufälligen Fundstücke durch die künstlerische Kombinatorik voller Witz und Ironie in die Sphäre des Künstlerischen, des Geheimnis- und Bedeutungsvollen.

Auch auf eine interessante weitere Parallele zwischen dem damaligen und jetzigen „Dadaisten“ lässt sich verweisen: auch Schwitters ist Werbegrafiker gewesen, ein Beruf, den auch Michael G. Müller als prägend für seine Art des Bildermachens nennt. Es ist das gestaltende Umgehen mit Materialien des Alltags, mit Schrift ebenso wie mit Gebrauchsdingen, die ja in der Werbung über ihr eigentliches Dasein hinaus zum ästhetischen Gestaltzeichen erhoben werden. Die gestalterischen Materialien sind auch hier die Dinge des alltäglichen Lebens – alles kann zum „Layout“ werden.

Michael G. Müller gelingt es, mit seinen Arbeiten einen äußerst spannungsvollen formalen und inhaltlichen Dialog zwischen seine Bildern und ihrem heutigen Erscheinungsumfeld zu schaffen. Präsentiert werden die Werke aus scheinbar wertlosem Abfallmaterial im Foyer einer Bank, einem Ort also, der ganz im Gegensatz zu den Materialien der Bilder, sich der Verwaltung hoher materieller Güter verpflichtet. Aus dieser Spannung erwächst den Werken ein fast ironischer Impetus zu, der den inhaltlichen Wert eines Kunstwerks gegen und über jede materielle Bewertung stellt. Das Kunstwerk ist somit nicht die Summe seiner Bestandsmaterialien, sondern ein ideelles Gut, dessen Wertschätzung sich in der jeweils subjektiven Aneignung des Betrachters vollzieht.

Während in den schützenden und bergenden Mauern von Museum und Galerie das Werk quasi automatisch als Kunst akzeptiert und erlebt wird, hat es das Kunstwerk an anderen Orten schwerer, überhaupt wahrgenommen zu werden. In Räumen der öffentlichen Geschäftswelt muss sich die Kunst gegen die hektische Schnelligkeit des Alltags durchsetzen, sie muss den Kunden von seinen geschäftlichen Interessen ablenken und ihn zum Betrachter werden lassen. Hat sich die Geschäftswelt der Kunst geöffnet, um ihr als Alternative zu Museum und Galerie neue Orte der Präsentation zu geben, muss auch erreicht werden, dass sich der Kunde, der Passant, der Arbeiter, der Kunst selbst öffnet, damit es zu einem echten Dialog, zur Kommunikation zwischen Werk und Betrachter kommen kann. Sonst besteht die Gefahr, dass die Kunst im öffentlichen Raum zum Image-Objekt, zum bloßen Ornament der Geschäftswelt degradiert wird.

Dieser Gefahr sind die Werke von Michael G. Müller im Foyer der Vereins- und Westbank entgangen, denn diese Bilder besitzen die formale und inhaltliche Kraft, einen spannungsvollen Dialog herzustellen. Erst hier eigentlich, an einem Ort des Alltagslebens, öffnen sich diese Bilder in ihrer ganzen Aussagekraft, entfaltet sich die Bedeutung und Notwendigkeit einer Kunst, die nicht den schönen Schein, sondern die Phantasie und den Zufall proklamiert. Diese Kunst einer grenzenlosen schöpferischen Freiheit im Kombinieren des Zusammenhanglosen und Zufälligen zieht ihre ironische – fast anarchische – Kraft erst aus ihrem Gegenpol, dem alltäglichen Leben.

In dieser Kunst sind die Möglichkeiten des Lebens nicht auf ein Funktionieren angelegt oder in ein starres System gebracht, sondern das Spiel mit dem Zufall und der Kombinatorik soll die nichtssagende, vernunftsgebundene Klischeewelt auflösen, die Kausalität in Frage stellen, das Vertraute unvertraut machen, um daraus einen neuen, größeren Zusammenhang aufleuchten zu lassen. Die Inhalte und Ziele der dadaistischen Kunst sind also seit den 20er Jahren nicht aus der Mode gekommen und vielleicht brauchen wir diese Kunst heute mehr denn je – eine Kunst, die nicht im Museum ihre Sanktionen erhält, sondern ihre Zündkraft im Alltagsleben entladen kann.

Der ungehörte Schrei des Literaten K.
Die Mühle des Ichs

Damit sind auch wir als Betrachter dieser Kunstwerke aufs äußerste herausgefordert, unser gewohntes Bild von Kunst und Leben wird in Frage gestellt, das Vertraute erscheint an neuen, verblüffenden, unerhörten Orten, scheinbar Zusammenhangloses wird hier kombiniert und dehnt sich so in schier unendliche Möglichkeiten der Zusammengehörigkeit der Dinge aus.

Wenn Sie also verblüfft fragen, liebe Betrachter, was eine Reihe von Teebeuteln, Kuchenformen, Elektroplatinen, Holz, Federn, Muscheln und Knochen, Brillengestelle, Schlüssel und Bohnenschoten auf einem Bild zu suchen haben, dann haben Sie durch Ihre Verblüffung, Ihre Verwunderung, Ihr Fragen und In-Frage-Stellen schon einen ganzen Teil dieser Bilder verstanden.

Was wir auf den Bildern von Michael G. Müller sehen und als scheinbar Vertrautes wiedererkennen glauben, wird sogleich wieder durch den Kontext des Bildes und die ironisch-poetischen Titel in Frage gestellt: Der Künstler will die verwendeten Dinge, seine Fundstücke, aus ihrem begrenzten Funktionszusammenhang lösen und im Bild zu kompositorischen Gestaltzeichen erheben, zu poetischen Metaphern, die auf eine Welt der Phantasie verweisen, die im Alltäglichen verborgen ist und nur entdeckt und aufgezeigt zu werden braucht. Dies ist ein Anliegen des Künstlers: uns die potentielle Schönheit, Bedeutungsvielfalt und Witzigkeit der Dinge vor Augen zu führen.

Aber allein auf diesen Akt des spielerischen Umdeutens bleiben de Arbeiten von Michael G. Müller nicht beschränkt. Sie verlangen vom Betrachter auch ein intensives „Lesen“, das über die bloße gegenständliche Identifikation der verwendeten Materialien hinausgeht und zu einem inhaltlichen Verständnis wird. Es ist wie beim Lesen einer Schrift, das semantische Verknüpfen von Gestaltzeichen und seiner Bedeutung, das diese Arbeiten auch zu Bildgeschichten werden lässt, die dem aufmerksamen Betrachter viel zu erzählen haben.

So erzählt ein großformatiges Bild »Kreuz der Lemminge« die Geschichte vom kriegerischen Handeln der Menschheit. Versuchen wir in der gewohnten Leserichtung von links nach rechts dieses Bild zu entziffern, so erkennt man auf dem linken Tafelteil Zeichen und Symbole, die wie Einritzungen steinzeitlicher Urvölker anmuten: auf der mit Sand, Kleister, Holzleim und Farbpigmenten intonierten Bildfläche erscheinen Krieger mit erhobenen Lanzen und Faustkeilen. Es sind magisch-rituelle Beschwörungsformeln kriegerischer Stämme und zugleich die bis heute gültigen archetypischen Symbole des Krieges.

Der zweite Tafelabschnitt zeigt die epochale Fortentwicklung zum mittelalterlichen und neuzeitlichen Menschen, dessen äußerliche Erscheinung sich zwar gewandelt hat, dessen innerer Trieb zur Kriegsführung sich jedoch unvermindert fortsetzt in immer neuen, unvorstellbaren Dimensionen.

Die große, grau-braune Mitteltafel ist das formale und inhaltliche Zentrum der Komposition: wir erkennen eine zertrümmerte Munitionskiste aus dem I. Weltkrieg, zerrissene, zerfledderte, angesengte Feldpostbriefe und Soldbücher, die uns beim Gedanken an ihre Besitzer erschauern lassen.

Wie erstarrter Schlamm zerwühlter, zersprengter Schlachtfelder überzieht die grau-braune Farbmasse diese Tafel, an die sich links ein Streifen Verbandmull anfügt, durch den schmutzig-rote Flecken hindurch schimmern. Eine rotdurchkreuzte Strichliste wird zum abstrahierten Symbol für nicht mehr zählbare menschliche Verluste. Aber der Mensch, so hat es den Anschein, lernt nicht aus der Erfahrung, denn der Krieg geht allerorts weiter, wie wir es alle selbst jeden Tag durch die Medien miterleben.

Die letzte Tafel des Kriegstriptychons von Michael G. Müller ist aus Elektroplatinen zusammengelötet, zeigt Schaltpläne, die niemand mehr zu entziffern vermag: ein Krieg, der sich selbst führt, erfunden vom hochentwickelten Menschen des nahen 21. Jahrhunderts, um sich letztendlich selbst zu vernichten.

Es ist ein Triptychon des Krieges, das uns der Künstler hier vorhält und er nutzt bewusst die Tafelform des religiösen Andachtsbildes: dem Betrachter, der ursprünglich vor dem kirchlichen Wandelaltar das christliche Heilsgeschehen erleben sollte, wird hier das Gegenteil vor Augen geführt, das jedoch die Realität selbst ist. Es ist ein Andachtsbild der Wirklichkeit, das nicht mehr nur den Leidensweg Christi, sondern den der sich bekriegende Menschheit schlechthin symbolisiert.

Auf der Mitteltafel, die traditionell die Kreuzigung Christi zeigt, erkennt man auch hier die kreuzförmig angeordneten, zerborstenen Munitionskistenbretter und darüber eine Krone aus Stacheldraht.

Mit seinem Kriegstriptychons steht Michael G. Müller in der künstlerischen Tradition des 20. Jahrhunderts, ich erinnere an Max Beckmann oder Otto Dix, die ebenfalls die Schrecken des Krieges in dieser Bildform verarbeitet haben, jedoch im Medium der traditionellen Ölmalerei. Eindringlicher aber, so meine ich, gelingt die Darstellung dieses Inhaltes durch die Materialcollage, die die Wirklichkeit ungeschönt ins Bild zu holen vermag, indem sie die Grenze zwischen ästhetischem Schein und der Wirklichkeit aufhebt.

Einer Wirklichkeit, die eben vieldeutig ist, wie uns der Künstler vor Augen führt: brutal, schrecklich, schön, poetisch und geheimnisvoll…

Dr. Ulrike Müller-Heckmann
Marburg, 02.02.1993